Wie in Berlin-Neukölln nicht-erwünschte Bewohner*innen
durch politische Bevormundung und machtvolle Interessen systematisch verdrängt werden.
Wer heute am Neuköllner Hermannplatz auf das Karstadt-Gebäude schaut, das direkt an der Bezirksgrenze auf Kreuzberger Boden steht, kann die beiden großen Kampagnen-Banner der Eigentümerin von »Galeria Karstadt Kaufhof« (GKK) »Signa Holding« nicht übersehen: „NICHT OHNE EUCH!“ heißt es auf ihnen in schwarzen und neogrünen Großbuchstaben. Ein Versprechen, nicht ohne die Bewohner*innen Kreuzbergs und Neuköllns „die Zukunft des Karstadt am Hermannplatz zu gestalten“. Der Immobilien- und Handelskonzern plant nämlich den Abriss des bestehenden Warenhauses und einen Neubau mit einer Fassaden-Replik des Gebäudes, das dort von 1929 bis 1945 stand.
Das Projektvorhaben stieß direkt nach seiner ersten öffentlichen Vorstellung im Stadtentwicklungsausschuss in Friedrichshain-Kreuzberg am 14. Mai 2019 auf viele Fragen und Zweifel, aber auch auf Wohlwollen ob der historischen Bezugnahme auf den Ort. Die kritischen Stimmen wurden nach dem 17. Mai 2019 jedoch zunehmend lauter, dem Tag, an dem das »Ibiza-Video« durch den »Spiegel« und die »Süddeutsche Zeitung« veröffentlicht wurde. Darin erwähnte der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache den österreichischen Investor René Benko, den Kopf hinter »Signa«, als einen der mutmaßlichen illegalen Großspender an die extrem rechte FPÖ und an die rechtskonservative Regierungspartei ÖVP. Dieser dementierte sofort, doch in der Nachbarschaft ließ diese Nachricht aufhorchen. Sie hat dort eine besondere Brisanz und führte innerhalb weniger Wochen zur Gründung der »Initiative Hermannplatz«. Die stadtpolitische und antirassistische Anwohner*innen-Initiative organisiert sich seither gegen die Planungen der »Signa Holding« und vor allem gegen den Abriss des Gebäudes, gegen eine Umgestaltung des Hermannplatzes und des Bezirkes von oben, gegen Verdrängung sowie gegen rassistische und ausgrenzende Diskurse, Planungen und Politik.
Die Brisanz rührt aus der spezifischen Gemengelage, die den Bezirk Neukölln seit mehr als 10 Jahren charakterisiert: Verdrängung und Rassismus. Zum einen ist Nordneukölln stark von Gewerbesterben geprägt und nicht nur Mietpreissteigerungen um 146 Prozent sondern auch die Aufsplittung in Einzeleigentum in vielen ehemaligen Mietshäusern führten zu einer drastischen Verdrängungswelle. Vor allem arme Menschen werden verdrängt und finden keinen Platz mehr in ihrer eigenen Community. Der seit Jahrzehnten von vielen unterschiedlichen migrantisierten Communities geprägte Norden des Bezirks wurde in kürzester Zeit weißer und bürgerlicher. Das Einkommens- und Machtgefälle zwischen Nachbar*innen ist drastisch. Gleichzeitig existiert ein bundesweiter, rassistischer und kriminalisierender Diskurs über Neukölln, der im Bezirksamt, besonders prominent und plump von Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky und etwas subtiler und klüger von seinem Nachfolger Martin Hikel (beide SPD), produziert und reproduziert wurde und wird. Die Initiative »Kein Generalverdacht!« beobachtet seit knapp einen Jahr, wie das Neuköllner Bezirksamt Polizei-Razzien gezielt gegen Shisha-Bars und Spätis einsetzt und die Presse dazu einlädt, um Macht und Kontrolle zu demonstrieren, obwohl es sich erwiesenermaßen um gewöhnliche Gewerbekontrollen handelt. Den organisierten rechten Terror, der hingegen seit acht Jahren migrantisiertes Gewerbe attackiert, Menschen mit Migrationsgeschichte und/oder linken, antirassistisch Aktiven verfolgt und terrorisiert, ist nicht nur noch nicht aufgeklärt, sondern sorgt immer wieder für Skandale, wie beispielsweise Ermittlungsfehler, Befangenheiten etc. Befeuert durch Buschkowskis rechte Narrative und der Kriminalisierung und Diskriminierung durch das Bezirksamt Neukölln, hat sich in der Presse ein Bild des Bezirks etabliert, das von rassistischen und klassistischen Vorurteilen durchsetzt ist.
Dieser Diskurs und die Konstruktion einer von Verachtung und Degradierung geprägten Atmosphäre führt zu einer Art Übereinkunft darüber, dass Veränderung nach weißen, dominanzgesellschaftlichen Maßstäben für den Bezirk nur positiv sein würde und Konsequenzen wie Verdrängung und soziale Ungleichheit in Kauf genommen werden müssten, um eine vermeintlich bessere Lebens- und Aufenthaltsqualität im Bezirk zu schaffen. Umso problematischer, dass »Signa« auch gleich ein Konzept für die Umgestaltung des gesamten Platzes parat hat und auf ihrer Webseite gar von einem „neuen Quartier“ spricht. Denn der Konzern hat Großes vor, eine „Projektentwicklung der besonderen Art“. Und besonders ist das Projektvorhaben tatsächlich, wirkt es doch innerhalb der oben erwähnten Gemengelage auf beiden Ebenen – auf der Ebene der Verdrängung und auf der des Rassismus. Als großmaßstäbliches Projekt würde es einerseits dazu führen, dass zumindest während der Großbaustelle das Warenhaus als Nahversorger und Magnet für kleinere Läden entfiele und somit das Gewerbesterben weiter vorangetrieben und der ohnehin dominante Online-Handel verstärkt würde. Der Prestige-Bau würde zudem, sobald er fertiggestellt wäre, die Bodenpreise nach oben treiben, so dass die Mietpreise, sowohl für Gewerbe als auch für Wohnen, noch drastischer steigen würden. Die Konsequenz: eine weitere, drastische Verdrängungswelle in Neukölln. Zugleich beschwört das Projektvorhaben ein Bild aus der Vergangenheit herauf, das in seiner historischen Bezugnahme migrantisierte Communities kulturell und geschichtlich ausgrenzt. Diese ideologische Funktion von Architektur ist zentral. Ein Bild dieser historischen Bekanntheit und Dimension – die Traufhöhe beträgt 32 Meter, die beiden Türme ragen mit den Lichtsäulen 71 Meter in die Höhe – hat nicht nur stadträumliche Strahlkraft, indem sie Umfeld, Gewerbestruktur sowie die Bevölkerungsstruktur nachhaltig verändert, sondern auch ideologische. In einem Kontext, in dem der rassistische Diskurs immer wieder suggeriert, dass in beiden Bezirken „Fremde“ das Stadtleben dominieren und die Straßen und Plätze verwahrlosen, tönt es zwischen den Zeilen auch, dass der Bezirk wieder zurückgewonnen werden müsse, es nicht zugelassen werden dürfe, dass die „anderen“ weiter dort die städtische Atmosphäre, die Läden, die Schulen, die Straßen prägen. Etwas, was die räumlichen Verwertungs- und Wachstumsmechanismen der neoliberalen Stadt schon leisten, aber das starke, sichtbare Zeichen dafür fehlt noch. Und genau das ist das vorgeschlagene, monumentale, mit der deutschen Vorkriegsgeschichte konnotierte Karstadt-Gebäude von 1929. Für manche die Erinnerung an eine Vergangenheit, als die Welt vermeintlich noch in Ordnung war, eine Zeit, auf die manche Menschen stolz sein wollen. Für viele im Bezirk ein deutliches Zeichen für eine Zukunft, in der sie keinen Platz mehr hätten, die Verdrängung abgeschlossen und die aktuellen Mietenkämpfe, sozialen Kämpfe, antirassistischen Kämpfe verloren wären.
Das ist der Kontext, in dem ein vom Neuköllner Bezirksamt befürwortetes Projektvorhaben von einem mutmaßlichen FPÖ-Spender, das vor allem migrantisierte und/oder arme Menschen verdrängen wird, eine besondere Brisanz besitzt. Die Vermutung liegt in der Luft, dass mit „Chance“ auch gemeint sein könnte, die missliebigen, vermeintlich integrationsunwilligen, kriminellen und bildungsfernen Leute loszuwerden, deren Zuhause Neukölln nun mal seit langem ist und die zu einem großen Teil nicht wählen dürfen und somit womöglich für die Politik als nicht relevant eingestuft werden. Viele migrantisierte Menschen dürfen zu einem großen Teil nicht mitsprechen, mitgestalten, sich beteiligen und eine demokratische Stimme entwickeln – das grundlegendste partizipatorische Recht, das Wahlrecht, steht ihnen nicht zu.
Die amerikanische Geografie-Professorin Ruth Wilson Gilmore hat das Phänomen auf den Punkt gebracht: „Capitalism requires inequality, and racism enshrines it“ – die Rolle von Rassismus im Bezug auf Gentrifizierung ist, die sozialen Konsequenzen wie räumliche Verdrängung, ökonomische Ungleichheit sowie Ausgrenzung aus demokratischen Prozessen, inklusive der Stadtplanung, zu rechtfertigen gar als selbstverschuldet erscheinen zu lassen.
Neukölln, und auch noch Teile Kreuzbergs, sind Orte, an denen sich diejenigen Menschen, die an vielen anderen Orten Berlins und Deutschlands stigmatisiert, diskriminiert und im besten Fall ständiger Bevormundung ausgesetzt sind, im Alltag entfalten, selbst organisieren und frei bewegen können. Es geht hier um Communities und soziale Netzwerke, die sich gebildet haben, um ökonomische Existenzen, die selbst geschaffen wurden – um Stadt, die selbst gemacht wird. Wenn der neu berufene Berliner Senator für Stadtentwicklung und Wohnen, Sebastian Scheel, in diesem Zusammenhang auf der öffentlichen Anhörung der »Signa Holding« im Stadtentwicklungsausschuss des Abgeordnetenhauses verlautbart „Wir müssen ordnend in die Strukturen in Neukölln eingreifen“, dann ist das Gewalt. Wenn Cordelia Polinna, die von den LINKEN eingeladene Expertin, in den Reigen einstimmt und feststellt, dass es „erheblichen stadtplanerischen Handlungsbedarf gäbe“, der Hermannplatz „weit unter seinem Potenzial“ sei, dass für „attraktive Zentren“ „attraktive und sichere öffentliche Räume“ und ein „attraktives städtebauliches Umfeld“ wichtig seien, ohne zu erklären, was mit „attraktiv“ gemeint ist, dann ist das in diesem Zusammenhang eine Bevormundung. Wenn der Spandauer SPD-Mann Daniel Buchholz in selbiger Sitzung die Umgebung am Hermannplatz als „desolat“ bezeichnet, dann ist das im besten Fall Ignoranz, im schlimmsten Fall Abwertung einer Umgebung, die von sehr unterschiedlichen städtischen Lebenswelten und enormer Lebendigkeit geprägt und keineswegs desolat, trostlos oder gar miserabel ist. Interessant ist, dass Buchholz in seiner kurzen Rede meinte, sie seien sich da alle einig, dass am Hermannplatz viel verändert, viel „entwickelt“ werden müsse. Wirklich alle? Die Ausgrenzung ist perfekt, in dem Moment, in dem Kritik, andere Betroffenheiten, Unterschiedlichkeiten so schön unsichtbar sind. In der mehrheitlich weißen, deutschen Runde im Stadtentwicklungsausschuss war das definitiv der Fall.
Polinna forderte, wenig überraschend als Geschäftsführerin von »Urban Catalyst GmbH«, ein „qualifiziertes Beteiligungsverfahren“. Wie aber soll eine gerechte, barrierefreie, demokratische Beteiligung möglich sein, wenn sie über die Köpfe der Menschen hinweg verordnet, die Notwendigkeit einer Transformation ohne sie diagnostiziert, der Bedarf ohne sie wirklich zu sehen festgestellt wird? Das ganze fühlt sich mehr und mehr an wie eine koloniale Bevormundung – ob nun seitens des Konzerns mit seinem als Beteiligung getarntem Greenwashing, Artwashing und Kiezwashing, oder seitens der Verwaltung der Rot-Rot-Grünen Koalition mit ihren Diagnosen, Feststellungen und Verträgen, oder seitens der „Expert*innen“ mit ihren Trendanalysen, Zukunftsprognosen und Empfehlungen. Gleichzeitig wird die »Initiative Hermannplatz« immer wieder aufgefordert, bessere Ideen zu liefern. Doch angesichts der undemokratischen Ausgangslage, der gesellschaftlichen Ungleichheiten und der Kolonisierung des Raumes mit Planungen und Ideen mächtigerer Akteure aus Privatwirtschaft, öffentlicher Verwaltung und auch aus der Bewohner*innenschaft, ist diese Aufforderung eher zynisch. Wir müssen zunächst einmal die Probleme und blind spots erfassen und offenlegen, die wir – übrigens auch in der Berliner Initiativenszene – oftmals übersehen. Und dann erst über Veränderung oder Nicht-Veränderung sprechen.
Dieser Text ist im Dezember 2020 erschienen in dem Magazin Común. Unterstützt das Magazin für stadtpolitische Interventionen, indem ihr das Heft bestellt: https://comun-magazin.org/.
Autorin: Niloufar Tajeri
Niloufar Tajeri ist Architektin und Mitbegründerin der Initiative Hermannplatz.